Eine Aufzeichnung.
“Hier werde ich wohl immer ein Fremder bleiben. Die hier Aufgewachsenen, die “digital natives“, ich kann sie kaum verstehen. Sie simsen, chatten, googeln, bloggen, twittern, als sei das völlig selbstverständlich; ihre mobilen Computertelefone sind die natürliche Verlängerung ihrer jungen Körper und nicht wie bei mir der Quälgeist in der Tasche. Always on, immer online – mich lenken sie ab, die ständigen Updates, Verschiebungen, Datenströme; die Generation Facebook zehrt davon: Sie sind besser informiert, sie sind besser vernetzt, sie haben mehr Sex. Über meine Zeitung, mein Telefon, meine CDs lachen sie nur. Selbst der magische Kasten meiner Tage, das Fernsehen, hat keine Macht über sie; sie finden ihn langweilig. Und dann gehen sie nach draußen und treffen alle ihre Facebook-Freunde im wirklichen Leben: Nicht einmal Stubenhocker sind sie geworden. Und ich kann ihnen nicht folgen. Wie bin ich hierher geraten?”
“Das erste Mal höre ich das Einschaltgeräusch eines Computers bei meinem Kumpel Hardy. Sein gebrauchter Apple II sieht aus wie ein zahngelber Unterlegkeil; überhaupt hat die Digitaltechnik zu dieser Zeit etwas Putziges. Das Radio dudelt fröhlichen Synthipop von Bands wie den Bronski Beat oder den Eurythmics; Computer sind etwas für bärtige Bastlerfreaks oder kleine blasse Jungs mit Brille – solche wie mein Kumpel Hardy eben. Die Killerspiele, die er spielt, heißen Missile Command oder Space Invaders. Aber Hardy spielt nicht nur: er will seine Maschine verstehen, bis ins letzte Bit. Er glüht richtig, wenn er davon erzählt, dass er auf einen Akustikkoppler spart, mit dem man zwei Computer miteinander telefonieren lassen kann. Er schafft es sogar, mich dazu zu bringen, dass ich versuche, von ihm die Programmiersprache Basic zu lernen. Nach der ersten Lehrstunde halte ich erst einmal ein wenig Abstand von Hardy – und konzentriere mich lieber auf die Mädels. Hardy hätte da auch gern mehr Erfolg, aber da kann ich ihm nicht helfen.”
“Knapp zehn Jahre später ist es dann Hardy, der mir helfen muss, mit meinem ersten eigenen PC klarzukommen. Bis jetzt habe ich alles, was zu schreiben war, immer schön mit der Schreibmaschine getippt, aber jetzt, Mitte der 90er, beginnen einen die Leute schon komisch anzugucken, wenn man einen Text mit getippexten Wörtern und ganzen ausge-x-ten Sätzen abgibt. Also Textverarbeitung. Hardy will mir außerdem noch ein Modem aufschwatzen, damit kann man E-Mails verschicken, aber wozu brauch’ ich das? Ich komme ja schon mit Wordperfect unter MS-DOS nicht klar. Aber es geht halt nicht mehr ohne – leider. Abends in der Kneipe schimpfen wir schon nicht mehr über Kanzler Kohl und das Wetter, sondern über Bill Gates und IBM. Aber der Tag der Rache wird kommen. Eines Tages werden sie bezahlen für all die Abstürze, die Arbeitsstunden, die ich auf der Suche nach verlorenen Dateien zubringe. All die verlorene Lebenszeit am Rechner. Der Tag wird kommen.”
“2001 ist es dann so weit. Die gesamte IT-Branche landet auf dem Bauch, und wir höhnen. Haben die wirklich geglaubt, dass man mit Hundefutter übers Internet Barbiefrisurbewertungsseiten reich werden kann? Hardy hat das wohl geglaubt, jedenfalls hat er uns immer und immer wieder erzählt, dass die New Economy das große Ding ist. Er sieht es doch an seiner Nichte Bini – die ist 1984 geboren und hat ein Leben ohne Computer, Internet und Handy gar nicht kennen gelernt, wenigstens nicht als Erwachsene. Und mit der selben verbissenen Begeisterung, mit der Hardy seinen Computer erobert hat, erobert sie jetzt das Netz und seine Möglichkeiten. – Bini liest sich durch e-zines, chattet über ICQ, denkt sogar über ein eigenes Webtagebuch nach. Also hat er wie wild irgendwelche Aktien gekauft. Aber Hardy fällt mit seinem Bini-Orakel auf die Schnauze – all die Internet-Blasen platzen. Die Zeit ist noch nicht reif, und ich reibe mir die Hände. Oder ich klopfe Hardy beruhigend auf die Schulter, beim Bier. Er versteht die Welt nicht mehr. Auch seine Nichte versteht er nicht immer – sie eilt ihm so weit voraus, wie er damals mir vorausgeeilt ist, als wir Kinder waren.”
“2009. Die Welt hat sich immer schneller weitergedreht. Acht Jahre im Internet sind wie 50 Hundejahre – oder so? Jedenfalls komme ich mir fünfzig Jahre älter vor als Hardys Nichte Bini – sie ist eine digitale Eingeborene; ich habe keine Chance, hinter denen herzukommen.”
“Als ich sie auslachte, weil ihre hochfliegenden Internet-Blasen geplatzt waren, da war es in Wahrheit die Stunde ihres größten Triumphs. Wir dachten, sie liegen am Boden, und wurden doch in diesem Augenblick selbst zu Untertanen ihres Netzes. Denn alles, was bis dahin Science Fiction war, wurde auf einmal denkbarer Alltag, und dazu brauchte man noch nicht einmal viel Phantasie. Okay, es ist nicht so schnell gegangen, wie uns die Börsenzocker damals weis machen wollten – aber in der Tendenz haben sie Recht behalten. Ich fühle mich abgehängt. Ein Angehöriger der Generation Festnetz. Ein Fremder in einem unbekannten Land namens Zukunft.”
(Entstanden im Auftrag der Sendung “hr2-Der Tag“)
Auch lesenswert:
- Der sendungsbewusste Sterbekandidat – das Problem mit dem Radio 2.0
-
Kommentare
Eine Antwort zu „Memoiren eines analogen Immigranten“
-
[…] Art das Verständnis von Gesellschaft und Kommunikation prägt. (Mein virtueller Gastgeber hat das hier mal ironisch in Worte zu fassen versucht.) Aber ist das schon eine Konfliktlinie? Nach den oben […]
-
Schreibe einen Kommentar