Elefanten können nicht von Mäusen lernen, wie man tanzt. Große Medienkonzerne können nicht von Silicon-Valley-Startups abschauen, wie man beweglich und innovativ wird. Oder doch? Dem öffentlich-rechtlichen VRT in Belgien scheint diese Haltungsturnübung zu gelingen – und so etwas zu schaffen, was öffentlich-rechtliche Sendern nur selten gelingt: eine verlorene Generation wenigstens ab und zu zu erreichen.
Wer über Journalismus heute redet, redet schnell über Buzzfeed. Die Plattform, die sich selbst das “Bored-at-work-network” nennt, durch Zehn-Dinge-die-du-eigentlich-nicht-wissen-muss-Listen bekannt geworden ist und doch den Anspruch erhebt, die Zukunft der Medien mitzubestimmen. (Wirklich lohnend: dieses Video eines Vortrags von Buzzfeed-Gründer Jonah Peretti.) Kein Wunder, dass gerade reichlich Buzzfeed–Klone entstehen – aber das flämisch-belgische Sambal (hier in maschineller Übersetzung) ist bemerkenswert. Schon deshalb, weil es seine junge Zielgruppe immer mal wieder mit einer Dosis Politik konfrontiert – in Form eines fröhlichen “Abgeordneter oder Schlagerstar?”-Ratens oder des Fukushima-Infopakets mit Godzilla-Content.
Sind die Nachrichten bei Sambal nur der Hintergrund, sind sie beim Schwester-Angebot Ninjanieuws Kern des Produkts. Ninjanieuws ist an den Buzzfeed-Partner NowThisNews angelehnt; wie NowThisNews bietet Ninjaniews Aktuelles in konzentrierten Happen an, optimiert für die Nutzung übers Mobiltelefon – als Service, den Jugendliche über die immer populäreren Dienste Snapchat und Instagram nutzen können.
Das sind beides Experimente – hinter denen mehr steht als der Versuch, mit ein paar flott abgekupferten Silicon-Valley-Ideen nach den Klicks der Jüngeren zu fischen: hier arbeitet ein immerhin mittelgroßer öffentlich-rechtlicher Sender hart daran, sich neu zu erfinden.
“The Lean Startup” ist die Bibel
Einer der Köpfe hinter Ninjanieuws ist Stijn Lehaen, Redakteur bei VRT, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Flamen – und seit nicht ganz einem Jahr der Leiter einer kleinen Truppe mit der Lizenz zum Experimentieren: des VRT-Startups. Er hat sich Zeit genommen, mir den Ideen-Inkubator zu erklären – der stolz ist, größtmögliche Unabhängigkeit von seinem Mutter-Unternehmen zu genießen. “Nach unserem Verständnis sitzen wir am Rand der Organisation”, erklärt er – und das bezieht sich nicht nur auf die Büros, die so weit von der Zentrale entfernt sind, wie es der VRT-Campus eben zulässt.
“It’s not another thing, it is a startup thing”: Von einer Reise an die US-Westküste hatten die VRT-Leute Eindrücke von großen Medienkonzernen wie Disney gesammelt, aber auch die Startup-Szene besucht. Hatten über die Beweglichkeit und Experimentierfreude gestaunt. Sich vorgenommen, davon nicht zu lernen, sondern dieses Ethos zu leben. Und ein Buch mitgebracht: The Lean Startup, die Silicon-Valley-Bibel des Unternehmers Eric Ries. Der betont: Du darfst nicht das auf den Markt drücken, was deine Technik hergibt, sondern das, was die Leute wollen. Und das “Minimum Viable Product” predigt, das vor allem fertig werden soll und nicht perfekt – und zugleich ein realistischer Markttest ist. (Mehr über Eric Ries in diesem wired.com-Artikel.)
Mit einem schlauen Buch ist es nicht getan. Gemeinsam mit der kleinen britischen Agentur MadeByMany haben sich die öffentlich-rechtlichen Innovatoren ein Verfahren ausgedacht, um eine vertrackte Frage zu klären: Was bieten wir den jungen Nutzerinnen und Nutzern? Um das herauszufinden, muss man sie mal fragen – was alle zwei Wochen in Gesprächsrunden passiert mit jeweils vier neuen Gruppen von Freunden. “Wir haben geschaut, wie sie ihre Smartphones nutzen, um nach Nachrichten zu sehen – und sie tun das nicht. Sie sehen bei Facebook rein, und das war’s.”
Die Unerreichten: Wie kommt man an die 15- bis 25-Jährigen?
Auf dem Radio- und TV-Markt mag VRT Marktführer sein, die Generation Smartphone erreicht der Sender derzeit nicht. “Wir wissen, wie man Video produziert, aber wir haben herausgefunden, dass die Art, wie wir es produzieren, nicht das ist, was sie wollen.” Also entstand die Idee der Kurzvideo-Nachrichten. Einen Vine-Experten suchte sich das Team über OpenVRT, eine Plattform, mit der VRT Kreative zum Ideenaustausch animieren will – ein Gebührengelder-Kickstarter, könnte man sagen. Über diese Plattform kommt VRT an die richtigen Menschen mit kreativen Ideen und kann mit ihnen zusammenarbeiten – wenn die Erkenntnisse aus den Gesprächen mit der jungen Zielgruppe in Produkte fließen sollen.
“Wir müssen wirklich zurück zu den Nutzern und sie fragen, was sie eigentlich wollen”, betont Stijn Lehaen, und nennt ein anderes Beispiel: Das neue iPhone – für eine Plattform wie Sambal Pflichtthema, richtig? Denkste: 18-Jährige können sich das neueste iPhone nicht leisten – und so entstand die Idee, 18-Jährige Telefone testen zu lassen, die sie bezahlen könnten. Eine andere Erkenntnis: Wir setzen in unseren Fernseh- und Radionachrichten zu viel voraus – sie führte zum “Dumme Fragen”-Erklärformat auf Sambal. Und eine dritte Erkenntnis: Die Nutzer von 10-Sekunden-Videonachrichten sind durchaus an vertiefenden Informationen interessiert. Weil die Macher das derzeit nicht anbieten können – Instagram und Snapchat lassen keine Links auf Hintergrundartikel zu – denken sie darüber nach, eine Nachrichten-App zu bauen. Für die können sich die Nutzer demnächst registrieren, noch ehe die erste Zeile Code geschrieben ist – so will das VRT-Entwicklerteam erkunden, ob es dafür tatsächlich Bedarf gibt, wiederum ganz im Einklang mit den Lehren des Startup-Gurus Eric Ries.
Das größte Problem: Erfolg
Die Gründungsphase des VRT-Startups nähert sich dem Ende – und das Projekt hat jetzt ein Problem: Sambal und Ninjanieuws sind erfolgreich. Mit Sambal erreicht VRT laut Stijn etwa 80.000 Nutzer im Monat, die Ninjanieuws-Nutzer beziffert er auf einige tausend; kein bahnbrechender Erfolg, aber in einer Sechs-Millionen-Region interessant genug. Die beiden Projekte waren aber von vornherein darauf angelegt, nur eine begrenzte Zeit im Inkubator zu laufen – die Verträge mit freien Mitarbeitern laufen aus. Der Inkubator selbst hat nur fünf Mitarbeiter, darunter zwei Entwickler – die redaktionelle Kapazität ist begrenzt.
Nun stellen sich dem Unternehmen VRT unangenehme Fragen: Wer soll die erfolgreichen Angebote fortführen – und woher soll das Geld kommen? Der Inkubator arbeitet dazu eng mit der jungen Radiowelle MNM zusammen, aber letztlich ist die Antwort auf diese Fragen Chefsache: Eine Frage der Prioritäten, sagt Stijn Lehaen, und erinnert, dass Medienunternehmen wie VRT es gewöhnt sind, neue Dienste und Kanäle auf bestehende Angebote obendrauf zu packen; in die Jahre gekommene Angebote auch wieder einzustellen, habe man nie gelernt.
“Über Erfolg machen wir uns dann Gedanken, wenn wir ihn haben”, sagt Stijn Lehaen. Er achtet sehr darauf, dass sich sein Inkubator nicht übernimmt: Was man in zwei Wochen nicht wenigstens als Demonstration umsetzen kann, packt er nicht an. Was bedeutet, dass man Ideen sehr, sehr rein halten muss – und nicht mit Features überfrachten darf. Was ausgelagert werden kann, wird ausgelagert – etwa A/B-Tests, die der Inkubator für eine Handvoll Euro bei einem Dienstleister anmietet. Und wenn die Produkte in die Kritik geraten – kann man sich als öffentlich-rechtlicher Sender erlauben, derart die Grenzen zwischen Meinung, Unterhaltung und Nachrichten zu verwischen? – flüchten sich die Macher in ihren Status als Experimentatoren: wir wollen doch nur spielen. Und doch ist es ihnen sehr ernst.
“There is no way of not doing this”, sagt Stijn Lehaen – wir haben keine Alternative.
tl;dr: Wie das VRT-Startup arbeitet
- Kleines Team mit großer Unabhängigkeit
- Bei null anfangen, nicht bestehende Produkte und Strukturen entwickeln
- Keine Zielvorgaben, nur der Chefetage verantwortlich
- Zusammenarbeit mit freien Kreativen
- Die Zielgruppe wirklich nach den Produkten fragen – immer und immer und immer wieder
- Schlanke Produkte, agiler Entwicklungsprozess
- Die Pflege fertiger Produkte an andere übergeben
Guter Hintergrundartikel über VRT Startup hier: journalism.co.uk
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